Der Traum von der deutsch-juedischen Symbiose


Ich kenne die Familie einer Enkelin in verschiedenen Kontexten. Sie selber hat immer wieder Aemter in der Gemeinde inne, der ich auch angehoere. Mit ihrer juengsten Tochter zusammen habe ich fuer LOGON (Light Opera Group of the Negev) Kulissen gebaut und geschoben. Mit dem aeltesten Sohn, dessen Frau und Kind habe ich bei einer gemeinsamen Freundin Chanukka gefeiert. Der Mann hat als Kinderarzt unsere Kleine kurz nach der Geburt untersucht.So ist denn das photokopierte und ringgebundene Heft „Die Geschichte der Familie B. …“ in meine Haende gekommen.Lange brachte ich es nicht ueber mich, es aufzuschlagen. Die Tragoedien, die einem aus solchen Texten normalerweise entgegenschlagen, sind nicht immer leicht auszuhalten. Heute abend tat ich es dann doch. Vielleicht weil es die Kleine das Heft auf der Suche nach einem Zeitungsbild fuer eine Hausarbeit in die Haende nahm.Das Vorwort beginnt so:

Mutti und Vati wurden im Geiste des Liberalismus und der Aufklaerung, der seit Anfang des 19. Jahrhundert (!) in Europa herrschten (!), erzogen. Vati erhielt eine Deutsche (!) Bildung, wie es damals ueblich war, mit Griechisch und Lateinisch als klassischen Sprachen und Franzoesisch als lebende (!) Sprache, sowie weitgehendes Wissen der Deutschen (!) und Europaeischen (!) Literatur und Poesie. Mutti erhielt, so wie es damals fuer junge Maedchen angebracht war, eine allgemeine humanistische Bildung und danach eine Ausbildung in einer Handelschule. Beide wuchsen auf im Geiste der juedischen progressiven Assimilation.

(…) Sie waren aufgeklaerte Deutsche, die beim Aufbau einer neuen demokratischen und gerechten Gesellschaft mitwirken wollten. Das Judentum war ihnen fremd. (…)

Ihre drei Kinder (…) wurden im Geiste der Assimilation, im Glauben an den Frieden und die Menschen erzogen. Die Jungens (!) wurden nach der Geburt nicht beschnitten. Wir KInder wussten nicht, dass wir Juden waren und was Judentum bedeutet. (…)

Der Geist der juedischen progressiven Assimilation wird offensichtlich als Gegensatz zum Judentum gesehen. Dass die Soehne nicht beschnitten wurden und die Kinder ohne jede Vorstellung vom Judentum erzogen wurden, scheint der bona fide Beweis zu sein, dass es sich wirklich um „aufgeklaerte Deutsche“ handelte.

Das Vorwort geht weiter:

Am Anfang der dreissiger Jahre, als die Nazibewegung sich verstaerkte, hat sich die Weltanschauung unserer Eltern grundsaetzlich veraendert. Die Familie hatte ploetzlich den Antisemitismus in seiner vollen Haesslichkeit erkannt und erlebt.

„ploetzlich“ macht nur dann Sinn, wenn beide Eltern vorher die Wahrnehmung von Antisemitismus verweigerten.

Damit erwachten die Wurzeln des Judentums. (…)

E. und K. wanderten im Juli 1933 nach Palaestina ein, als sie 39 und 40 Jahre alt waren, ohne jegliche zionistische Einstellung und juedische Tradition, ohne Illusionen und ohne Besitz. (…)

Bemerkenswert ist, dass dieser Text von heute stammt. Das Heft wurde erst 2004 von den drei Kindern und ihren Kindern gemeinsam verfasst. Selbst im Rueckblick und im Wissen, was in Deutschland geschehen ist, scheint der Traum vom „Geist der juedischen progressiven Assimilation“ seinen Glanz nicht voellig verloren zu haben.

Vor einem Jahr habe ich Amos Elon „The Pity of It All“ gelesen. Untertitel „A Portrait of the German-Jewish Epoch 1743-1933“. Hier der Text von der Rueckseite der Paperback Ausgabe:

In this important work of historical restoration, Amos Elon shows how a persecuted clan of cattle dealers and wandering peddlers was transformed into a stunningly successful community of writers, philosophers, scientists, tycoons, and activists. In engaging, brilliantly etched portraits of Moses Mendelsohn, Heinrich Heine, Karl Marx, Hannah Arendt, and many others, Elon traces how a small minority came to be perceived as a deadly threat to German national integrity.

Eben, was die deutschen Juden als „progessive Assimilation“ und „aufgeklaertes Deutschtum“ sahen, empfanden weite Teile der nicht-juedischen Deutschen als bedrohliche Unterwanderung, gegen die man sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen musste.

Trotzdem ist auch bei Elon die Wehmut unueberhoerbar. Dass der Autor selber nun in Italien lebt (Toscana!) und nicht in Israel, passt zu einem Trend unter israelischen Intellektuellen und moechte-gern-Intellektuellen, die ihre geistige Heimat nun zwar nicht mehr speziell in Deutschland sehen, aber doch in Europa. Israel kann dann gern auch als „quasi-faschistisch“ diffamiert werden. Das Interview im Counterpunch kann als Illustration zu Levins Thesen verwendet werden. Es ist eine deprimierende Lektuere.

Der Traum von der deutsch-juedischen (bzw. heute europaeisch-juedischen) Symbiose, so sehr er sich als Chimaere erwiesen hat, er wird weitergetraeumt und wiederum nur von einer Seite aus. Ich hoere nur nicht-juedischen Stimmen in Europa, die den Verlust von vor 60 Jahren beklagen, ich hoere keine Traeume von einer neuen und besseren Gegenwart oder Zukunft fuer Juden und Europaeer.

Gerade habe ich noch einen Text zum Thema gefunden: The left among us like victimhood

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16 Antworten

  1. Das gefällt mir gut, dass Du hier und in „Israel und Europa“ Deine persönliche Sicht der Dinge darstellst. Du könntest ruhig öfter „Ich“ sagen, das gibt Deiner politischen Argumentation mehr Tiefe und Gewicht.

    Eine Frage nur: Ist nicht für Nationen, die sich als demokratisch verstehen, Europa tatsächlich so etwas wie eine geistige Heimat? Für Amerika wie für Israel?

    Du hast natürlich Recht wenn Du kritisierst, dass eine germanophile (und heute vielleicht europhile) Einstellung viele Juden dazu verführt (hat), das Heil in der Auflösung des eigenen Volkes in den Völkern Europas zu suchen, einzelne Länder (Deutschland, Amerika) unkritisch zu verklären, oder gar als jüdische Kronzeugen gegen Israel und das Judentum aufzutreten.

    Ich sehe dabei eine Parallele zu der Marotte vieler Nachkriegsdeutscher, sich in andere Länder (Italien, Frankreich, Amerika, Russland, selbst Polen) regelrecht zu verlieben und sich dabei bewusst vom eigenen Land zu distanzieren bzw. demonstrativ als der „gute Deutsche“ aufzutreten.

    Ich bin nicht der Meinung, dass jeder Mensch sich mit dem eigenen Land, dem eigenen Volk oder der eigenen Religionsgemeinschaft identifizieren müsse (Mit Identifizierung meine ich, kurz gesagt, die Fähigkeit, „Wir“ zu sagen); es gibt durchaus Menschen, in deren Charakter es liegt, dass ihnen diese Zugehörigkeit egal ist – das ist noch keine seelische Krankheit. Richtig krank ist aber, wenn man einerseits bewusst als Angehöriger der jeweiligen Gemeinschaft auftritt (also sich sehr wohl damit identifiziert) und sie GLEICHZEITIG zur Verkörperung des Schlechten und Bösen erklärt, vor dem man die Welt in Schutz nehmen müsse, und die kein Recht habe, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Dem Typ des antisemitischen /antiisraelischen Juden entspricht der des antiamerikanischen Amerikaners oder des deutschfeindlichen Deutschen. Oder, um es auf die Religion zu beziehen, des Christen, der Mohammeds Geburtstag feiert und sich für die Kreuzzüge geißelt, die fast tausend Jahre her sind.

    Der unausgesprochene Subtext lautet: Die anderen (Juden, Amerikaner, Deutschen, Christen) sind die Bösen, aber ICH bin der GUTE Böse. Betrifft Angehörige von Völkern/Gemeinschaften, die Grund zu der Annahme haben, dass ihr Volk in den Augen anderer Völker unbeliebt bzw. Vorurteilen ausgesetzt ist. Dabei werden diese Vorurteile nicht hinterfragt, sondern akzeptiert, also die Fremdsteuerung des eigenen Urteils in Kauf genommen. Dass damit oft der Anspruch einhergeht, selber frei von Vorurteilen zu sein, ist besonders grotesk, weil tatsächlich fremde Vorurteile übernommen werden. Der Verzicht auf die Wahrnehmung von Interessen des eigenen Volkes bedeutet ja nicht den Verzicht auf die Wahrnehmung von Interessen überhaupt, sondern, dass man fremde Interessen vertritt.

    Ich bin weiß Gott der Letzte, der einem unkritischen Chauvinismus das Wort redet. Die Identifikation mit dem eigenen Land sollte einen nicht hindern, es zu kritisieren. Es ist aber ein Unterschied, ob man es kritisiert, oder seinen Feinden in die Hände spielt.

  2. Weisst Du Manfred, ich muss ein bisschen vorsichtig sein, wo und wie ich von mir selbst erzaehle, weil ich meinen familiaeren Hintergrund dabei nicht ausblenden kann. Schon zum Stichwort Bildungsbuergertum wird das ja deutlich. Und meine Eltern, Geschwister usw. haben ein Recht darauf, dass ich keine allzu persoenlichen Geschichten erzaehle, in denen sie vorkommen.

  3. Manfred,

    Ist nicht für Nationen, die sich als demokratisch verstehen, Europa tatsächlich so etwas wie eine geistige Heimat? Für Amerika wie für Israel?

    Warum sollte das so sein? Die frz. Revolution war fast gleichzeitig mit der amerikanischen und vom Ergebnis her gesehen weniger erfolgreich. Die geistige Heimat fuer Nationen, die sich ueber ihre Demokratie definieren, muessten eher die USA sein. Die Herleitung aus der antiken Polis oder aus der englischen Magna Charta scheint mir ein bisschen zu weit zurueckzuliegen. Auch die Schweiz bietet sich nicht so sehr als geistige Heimat an.

    Und war Amerika nicht gerade auch in Europa tatsaechlich Focus dieser Sehnsucht „Amerika, du hast es besser..“?

  4. den text, den du oben zitierst, finde ich als diskussiongrundlage dünn. er ist naiv und gibt wenig her, und ist mitnichten als „prototyp“ zu erkenntnissen über die „deutsch-jüdische symbiose“ herzunehmen, möchte ich mal sagen.

    was genau ist eigentlich dein interesse an den jeckes? worauf möchtest du hinaus, was ist deine eigentliche frage?
    die, warum jeckes immer noch an deutscher kultur interessiert sein könnten?
    (in diesem falle würde mich zunächst interessieren, wie hoch das interesse in wirklichkeit ist. kaum einer der israelis mit deutschen wurzeln, die ich hier treffe, ist an „deutscher kultur“ interessiert – eher daran, in b. eine stadt gefunden zu haben, die ein internationales und junges publikum, billige mieten und lebenshaltungskosten und wenig stress verspricht.)

  5. Mein Interesse an den Jecken ist schlussendlich die Frage nach meiner eigenen Identitaet. Ich bin zwar alles andere als „Jecke“ im Sinne der Definition, aber ich werde hier dieser Gruppe zugerechnet. Es geht um die Frage, wie verschiedene Identitaeten miteinander vereinbart werden koennen oder auch nicht.

    Guck mal, unter welcher Ueberschrift mein Link bei „No Blood for Sauerkraut“ gefuehrt wird: „Gruesse aus der (geistigen) Heimat“. Ich bin dazu nicht befragt wurden, finde aber, es passt. Der deutsche Sprachraum ist mindestens meine erste geistige Heimat, gleichzeitig wuerde ich mich aber auch als zufrieden und verwurzelt in Israel bezeichnen. Darueber, dass ich Europa im Versinken sehe und manchmal das Gefuehl habe, gerade noch rechtzeitig weggegangen zu sein, habe ich ja auch schon geschrieben.

  6. dein vater ist doch deutscher, nicht wahr? dann gehören ein teil deiner bezüge ganz sicher zum „sauerkrautland“ ;).

    ich für meinen teil bin sicher, dass identität nichts wirklich eindeutiges sein muss. sie kann vielschichtig sein, vor allem, wenn man in zwei (oder mehreren) verschieden kulturen bzw. ländern aufwächst. zum glück ist man seit den 90er jahren von der eindeutigkeitstheorie abgekommen, auch wenn es wohl immer noch (oder wieder) menschen gibt mit einer irrealen sehnsucht danach.

    ich sehe europa nicht am versinken, aber dazu schrieb ich ja auch bereits schon. ich sehe die ganze welt in einem prozess einer veränderung, deren ende(n) ich mir (noch nicht?) vorstellen kann. eine bezeichnung wird es dafür wohl auch noch lange nicht geben.

    ich glaube nicht, dass man sich in 10 oder 20 jahren schon wirklich verwurzeln kann. es sind kleine wurzeln, ja. aber ein starker wind kann sie jederzeit schnell ausreissen.
    dennoch ist der versuch, sich zu verwurzeln wohl wichtig, und ich denke, was manchem jecken, der in der nazizeit auswandern musste, passiert ist, dass er sich nicht einmal ansatzweise verwurzeln konnte. vielleicht, weil es keine „freiwillige“ auswanderung, sondern eine vertreibung war. die kränkung darüber hat viel energie geraubt.

    auswanderer sind immer die „dor ba’midbar“, finde ich, erst die kinder sind richtig verwurzelt…
    und schau, du lehrst deine töchter deutsch… das ist jeckisch! 😉

  7. Ruth,

    natürlich ist es Dein gutes Recht, von Dir nur so viel preiszugeben, wie Du für richtig hältst, ich verstehe das auch.

    Du wirst also in Israel den Jeckes zugerechnet. Du Ärmste! Für Dich als gebürtige Schweizerin muss das ja die Höchststrafe sein! 😀

    „Die geistige Heimat für Nationen, die sich über die Demokratie definieren, müssten eher die USA sein. Die Herleitung aus der antiken Polis oder der englischen Magna Charta scheint mir ein bisschen zu weit zurückzuliegen.“ Tss, tss, das sagt ausgerechnet eine Historikerin? Ich bin schockiert. 😉

    Für mich ist der Westen, also Europa, Nordamerika und Israel EINE Zivilisation, und die hat ihre Wurzeln in Europa und in dessen Geschichte, auch der Antike. Die ist zwar in der Tat lange her, aber ihre Wiederentdeckung in der Renaissance gehört zu den Voraussetzungen der westlichen Moderne. Überhaupt sollte man die Prägekraft langfristig wirkender kultureller Muster nicht unterschätzen, gerade jetzt nicht, wo wir in der Konfrontation mit dem Islam merken, wie stark diese Prägung ist, und wie Zivilisationen aussehen, die diese Einflüsse nicht kennen.

    Die Magna Charta etwa ist bis HEUTE geltendes englisches Recht, und der Gedanke, dass der Staat (der König) die Freiheit seiner Bürger (Untertanen) zu achten und zu verteidigen hat, und dass es dazu einer Machtbalance bedarf, ist die Grundlage des angelsächsischen Rechtsempfindens, auch die Grundlage der amerikanischen Verfassung („checks and balances“). Die Amerikaner sind zwar aus dem britischen Reichsverband ausgestiegen, aber die britischen Rechtsideen haben sie mitgenommen. Übrigens haben diese Ideen auch das kontinentaleuropäische Denken stark beeinflusst, man denke nur an Montesquieu, der ausdrücklich das britische System als Vorbild für seine Idee der Gewaltenteilung genannt hat. Es trifft zu, dass die Demokratie in Amerika schneller und nachhaltiger erfolgreich war als in Europa. Das liegt aber nicht daran, dass Europa diese Ideen hätte importieren müssen, sondern daran, dass die Gegenkräfte in Gestalt von Kirche, Adel und Fürsten, die es in Europa gab und erst überwunden werden mussten, in Amerika gar nicht erst vorhanden waren. Insofern hatte es Amerika wirklich besser.

    Der Zionismus wiederum, pardon, ist eine Idee, die so nur im Europa des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts entstehen konnte, zu einer Zeit, wo alle europäischen Völker, die noch keinen Nationalstaat hatten, einen solchen zu erreichen versuchten. Es lag geradezu in der Luft, dass auch die Juden dies versuchen würden (und zwar in Gestalt der typisch westeuropäischen Verbindung des nationalen mit dem demokratischen Gedanken). In Amerika, das sich auch damals schon über seine ethnische und religiöse Heterogenität definierte, wäre dies kaum möglich gewesen. Wenn ich mich richtig erinnere, formulierte Herzl u.a. auch die Idee, der jüdische Staat solle den Arabern die Segnungen der EUROPÄISCHEN Kultur bringen. Sicher nicht sein leitender Gedanke, aber doch eine seiner Ideen.

    Noch ein Wort zum „Versinken“ Europas: Unterschätze nicht die Stabilität dieses weitgereisten alten Frachters. Es gibt Lecks und rostige Stellen, die 27 Kapitäne streiten sich wie die Besenbinder (aber das taten sie schon immer), das Navigationssystem scheint auch defekt zu sein, die Reparatur ist mühselig und der alte Kasten ziemlich schwerfällig. Aber in dieser Schwerfälligkeit auch stabil, und die Maschinen sind stärker denn je. Du weißt, dass ich mir die Finger wundtippe, um vor den Gefahren zu warnen und die Reparatur zu beschleunigen. Aber das tue ich in einem optimistischen Geist; Untergangsstimmung ist mir nicht nur vom Temperament her fremd, ich sehe auch Anlass zum Optimismus. Dass das alles sehr langsam vorangeht, ist richtig, aber es GEHT voran.

    Diese Lanze musste ich jetzt doch brechen für mein Europa.

  8. Manfred,

    ich will Dir Deinen Optimismus gern lassen. Wie Du weisst, habe auch ich seit Fruehjahr den Eindruck, dass sich der Wind gedreht haben koennte. Hoffentlich behaelst Du Recht.

    Der Zionismus ist selbstverstaendlich eine europaeische Idee, das hatte ich gar nicht in Frage gestellt.

    Auch dass die Wiege der Demokratie in Griechenland und der modernen Demokratie dann vor allem in England zu suchen ist – kein Widerspruch. Aber die moderne Demokratie schlechthin sind nach meinem Verstaendnis die USA. Die totalitaeren Systeme, die im 20. Jh Europa beherrschten, koennen nicht mehr auf Kirche, Adel und Fuersten zurueckgefuehrt werden, sondern haben etwas damit zu tun, dass die europaeischen Bevoelkerungen die demokratischen Ideale nicht verinnerlicht hatten. Haben sie das in der Zwischenzeit wirklich getan?

    Die Sehnsucht nach dem starken Vater Staat (mit anderen Worten, der Wunsch nach der eigenen Infantilisierung) ist doch immer noch sehr praesent, oder irre ich mich da?

  9. Das Entehen der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts ist gewiss ein zu vielschichtiger Prozess, als dass man etwa sagen könnte (womöglich noch im Sinne einer Schuldzuweisung): Der Adel wars! Oder: Die Kirche wars! Es hat aber seinen Grund, dass die europäischen Bevölkerungen die demokratischen Ideale nicht verinnerlicht hatten, und da spielte es durchaus eine Rolle, dass der preußische Adel mit seinen Bastionen in Militär, Verwaltung und Justiz, oder der österreichische Halbabsolutismus nicht rechtzeitig den Weg zu Reformen fanden, andererseits aber – da denke ich vor allem an die Preußen, ein stilbildendes Vorbild für große Teile des Volkes darstellten. Die katholische Kirche wiederum hat jeglichen liberalen oder demokratischen Fortschritt zäh bekämpft (zumindest in Südeuropa; in Deutschland lagen die Interessen etwas anders, wegen der minoritären Position der Katholiken) und sich nicht zufällig mit Franco und Mussolini verbündet.

    Der Kommunismus schließlich konnte sich nur in Europas rückständigstem Teil, nämlich Russland, durchsetzen (die osteuropäischen Regime der Nachkriegszeit zählen in diesem Zusammenhang nicht, weil sie sich auf die Bajonette der Roten Armee stützten.) Und dort scheint mir evident zu sein, dass Kirche und Adel (bzw. zaristische Autokratie) nicht fähig gewesen waren, ihrem Land den Weg zu einer friedlichen und gemäßigten Entwicklung zu weisen. (Natürlich ist das bei weitem keine ausreichende Analyse, die Ursachen für Faschismus und Kommunismus sind viel komplizierter, als eine solche auf zurechnungsfähige Akteure konzentrierte Sicht vielleicht suggeriert.)

    „Die Sehnsucht nach dem starken Vater Staat (mit anderen Worten, der Wunsch nach der eigenen Infantilisierung)…“- Daraus ergibt sich ein mich verblüffender, mir neuer Gesichtspunkt: Ich hatte Dich zunächst so verstanden, als ginge es nur um die alte Kontroverse Markt-Staat; in einem solchen Zusammenhang billige ich, wahrscheinlich im Gegensatz zu Dir, dem Staat Fähigkeiten zu, die der Markt nicht hat und nicht haben kann. Aber Dein Argument der „Infantilisierung“ zielt ja wesentlich tiefer (Du hattest es schon vor einiger Zeit als Konsequenz des christlichen Gottesbildes herausgearbeitet): In der Tat, wenn man es unter dem Aspekt der „Infantilisierung“ sieht, dann scheint es einen Zusammenhang zu geben zwischen der Unfähigkeit, die wirtschaftliche Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen (das ist kein Argument gegen den Sozialstaat schlechthin, sondern gegen die Selbstverständlichkeit, mit der Ansprüche gegen ihn erhoben werden), der Unfähigkeit ganzer Länder, die Verantwortung für die eigene Sicherheit wahrzunehmen (und sie stattdessen auf die Amerikaner abzuschieben, die gleichwohl dafür geprügelt werden), der Unfähigkeit, Gegensätze und auch Feindschaft als solche zu benennen, und zu akzeptieren, dass man nicht jeden Gegensatz mit „Dialog“, Kompromiss etc. in Wohlgefallen auflösen kann, und einem völlig realitätsblinden Vulgärpazifismus.

    Das ist ein spannender Gesichtspunkt, und es wird sich lohnen, den zu vertiefen. Bezogen auf Europa sollte man aber sehen, dass es sich um einen Rückfall handelt (den Europäern von vor 100 Jahren kann man sicher auch gewisse Formen von Infantilität vorwerfen, aber gerade nicht die , um die es heute geht). Meine Vermutung geht dahin, dass wir es in Europa mit einer seit 1914 andauernden Transformationskrise zu tun haben, die permanent Veränderung und damit Verunsicherung erzeugt. Daher wahrscheinlich die Sehnsucht nach dem Laufstall.

  10. Manfred,

    meinst Du nicht, es koennte auch damit etwas zu tun haben, dass seit ueber hundert Jahren eine negative Selektion stattfindet?

    Menschen mit Eigeninitiative und Selbstvertrauen verlassen Europa tendenziell viel mehr als schwache Menschen, die sich vor Veraenderungen fuerchten. Dabei spielt es fuer mich im Moment keine Rolle, ob Menschen aus wirtschaftlichen Gruenden oder aus politischen Gruenden Europa verliessen. Fuer die Gegenwart ist nachgewiesen, dass Einwanderer aus anderen Weltregionen, die sich etwas zutrauen, auch lieber nach Amerika gehen. Europa bekommt auch da die negative Auswahl.

  11. Da hast Du Recht (aber das ist nicht unbedingt ein Gegensatz zu meiner These, nur die zutreffende Bechreibung einer gegenläufigen Tendenz). Europa verliert durch die Migrationsströme doppelt an Qualität: sowohl bei der Einwanderung (zu uns kommen die, die vom Schlaraffenland träumen, nach Amerika gehen die, die es schaffen wollen), als auch bei der Auswanderung: Es waren ja nicht die Schlechtesten, die es aus Europa nach Amerika zog, und die Tendenz hält bis heute an. Ich würde die Tendenz aber nicht überbewerten: Zum einen gibt es auch bei den Einwanderern, gerade aus Asien, durchaus Leute, die eine Bereicherung bedeuten. Und was die absolute Leistungsspitze angeht (die es ohne breite Basis nicht geben kann): Wirf mal einen Blick auf die diesjährigen Nobelpreise. So schlecht ist Europa nicht, Deutschland schon gar nicht.

  12. ich habe ein wenig herumgelesen, und mit (israelischen) freunden hier gesprochen über das thema „wurzeln“, „kultur“, „ethnie“ in israel und es scheint doch so zu sein, wie mein eindruck war: es IST wichtig, wo die eltern/ grosseltern/ urgrosseltern herkommen, ob sie sephardisch, aschkenasisch oder gar jemenitisch sind/ waren, ob sie aus frankreich oder deutschland, polen, russland oder rumänien stammen, aus italien, dem maghreb oder dem irak, ob sie masorati, chiloni oder haredisch sind oder irgendetwas dazwischen. ich vermute, es wäre unnormal, wenn dem nicht so wäre, denn in einem einwanderungsland, welches noch immer grosse schwierigkeiten hat, sich nach innen zu definieren, suchen menschen zunächst, sich in einer untergruppe zu verorten, wenn die grosse gruppe so inhomogen ist wie die israelische gesellschaft. ich denken NICHT, dass dies also etwas typisch „jeckisches“ ist. mein eindruck ist ja auch, dass deine frage auch eine persönliche frage ist, nämlich wo du als gioret mit schweizerisch-deutschen eltern und einem sefardischen mann dich verorten kannst. oder täusche ich mich da? deine mädchen haben es leichter, sie sind echte sabras, aber auch hier, je nach dem, welchen weg sie gehen, werden sie mit der frage der kulturellen identität vielleicht konfrontiert werden.
    zum thema shomer ha’zair habe ich leider weiter nichts wirklich erhellendes gefunden!

  13. Natuerlich ist meine Frage auch eine persoenliche, das habe ich ja unter „Israel und Europa“ ganz klar geschrieben.

  14. halachisch ist es auf jeden fall so, dass „die frau nach dem mann geht“, d.h. den minhagim seiner familie folgt. sowohl r‘ ovadia josef, r‘ moshe feinstein als auch r‘ felder, die sich hier auf die mischna berura beziehen, haben so gepaskent. die mischna berura konstatiert, dass, wer dauerhaft seine eigene gemeinde verlässt und sich dauerhaft in einer anderen einrichtet, sich nach den bräuchen der neuen kehille zu richten hat. die frau wird in diesem fall angesehen wie einer, der in einer neue kehille überwechselt. gut schabbes!

  15. […] die mich auf die Idee gebracht hat, dass die Mentalität solcher Kunden Ausdruck einer umfassenden Infantilisierung europäischer Gesellschaften sein könnte (Kompetent kann ich mich natürlich nur über Deutschland […]

  16. Schoschana,

    diese Regel kenne ich wohl, trotzdem ist es bei uns eher umgekehrt. Ich war schon im ashkenasischen Ritus zuhause und mein Mann ist bis zu unserer Heirat eigentlich nur in die Synagoge gegangen, wenn er seine Eltern besuchte. Lange bin ich entweder allein oder dann als die Maedchen groesser wurden mit ihnen gegangen. Nur langsam begann er sich ebenfalls anzuschliessen und so betet heute die ganze Familie in „meiner“ Kehilla. Nur an den hohen Feiertagen zieht es ihn doch in ein sefardisches Beit Knesseth.

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