Als Einleitung moechte ich vorausschicken, dass ich hier erst mal unausgegorene und verstreute Gedanken sammle.
Bei den Freunden der offenen Gesellschaft kritisiert Constantin die Aussage von Juergen Ruettgers
„Eine Gesellschaft ohne Werte funktioniert nicht. Unser Grundgesetz lebt von Werten, die die Verfassung selbst nicht vorgeben kann. Werte haben immer etwas mit Religion oder mit Gott zu tun, weil sie nur so legitimiert sind. Ohne diesen Bezug wären Werte nur eine formale, blutleere Verabredung von Spielregeln.“
Gott sei schon allein deshalb für die Menschheit existenziell notwendig, damit sich der Mensch nicht zum Maß aller Dinge mache. „Unsere geschichtliche Erfahrung ist so, dass immer dann Menschen unterdrückt und ermordet wurden, und die Gesellschaft zutiefst inhuman wurde, wenn sich Menschen vergöttlicht haben“, sagte Rüttgers.
Dazu meint Constantin:
So ziemlich alles, was die Aufklärung hervorgebracht hat, wird von Rüttgers in diesen knappen Sätzen (im Jahre 2007!) konsequent ignoriert. Der Mensch (und damit menschliches Leben und Freiheit) ist DER absolute und höchste Wert, da durch den Menschen bestimmt und abgeleitet wird, was von Wert ist und was nicht. Werte können somit nur nach objektiven Maßstäben der Vernunft bestimmt werden. Damit kann alles Wissen, alles an Erkenntnissen (und alle Werte) nur im Menschen (und seiner Vernunft) selbst seinen Ursprung haben – und nicht in irgendwelchen spirituellen Autoritäten (”Gott” etc.).
Mir straeuben sich bei solchen Aussagen regelmaessig die Nackenhaare. Dass dem Leben in der Thora ein sehr hoher Wert zugemessen wird, scheint mir offenkundig. Allerdings muss ich gleich einraeumen, dass in diesem Thoratext nicht das Leben des Individuums gemeint ist, sondern das Leben des Kollektivs.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht ein kleines Bekenntnis ablegen: Ich bin gottesglaeubig und von allen Religionen, die ich naeher kenne, fuehle ich mich im Judentum am besten aufgehoben. Als Fundamentalistin kann ich mE dennoch nicht bezeichnet werden. Nur als Beispiel: Die Thora (und damit sind die schriftliche und die muendliche Thora = Talmud gemeint) gilt orthodoxen Juden als Gotteswort. Nicht als direktes Gotteswort: da sie die Sprache der Menschen spricht, wird davon ausgegangen, dass sie mindestens eine Veraenderung durchmachte, bevor das Volk Israel sie am Sinai erhielt. Hier haetten wir also eine kleine Hintertuer gegen allzu woertliche Auslegungen, immerhin eine mehr als dem Islam zur Verfuegung steht. Fuer mein Teil habe ich kein Problem damit, auch die Thora als historischen Text zu lesen und zu analysieren. Nur scheint mir, dass gerade durch die spezielle Geschichte dieses Textes offenkundig wird, dass es sich um einen ganz aussergewoehnlichen Text handelt, so dass ich die Offenbarung auf Umwegen wieder eingefuehrt haette.
Dem Leben und dem Wohlergehen des Individuums wird auch in der Thora grossen Wert zugemessen: Eine Suche in der Luther-Bibel mit den Stichworten „Witwe, Waise“, die zusammen mit Fremdling und Armen die gesellschaftlich Schwachen darstellen, ergibt eine lange Liste von Stellen aus der Thora, in denen verlangt wird, sie zu schuetzen, bzw. jeder Missbrauch mit harten Strafen bedroht wird.
Noch ausdruecklicher ist das Christentum in
Matthaeus 25.40
Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: gWas ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Trotzdem hat Constantin Recht, wenn er schreibt, dass das menschliche Leben nicht als absoluter Wert gesetzt wird. Die Seite „Evil Bible“ ist viel zu oberflaechlich und primitiv fuer meinen Geschmack, aber ihre Liste Murder in the Bible fuehrt jede Menge Textstellen auf, wo nur an der Definition des Begriffs „Mord“ (vorbedacht, niedrige Beweggruende) geruettelt werden kann.
Ob nun aber die Aufklaerung das menschliche Leben zum Wert an sich erhoben hat, wage ich zu bezweifeln. In Sachen Selbstmord/Freitod vertreten die abrahamitischen Religionen eine sehr viel striktere Auffassung als die Philospophen der Aufklaerung. Offensichtlich wird hier von der Aufklaerung nicht das menschliche Leben, sondern die menschliche Freiheit als hoechster Wert gesetzt. Wie hier deutlich wird, ist menschliche Freiheit nicht synonym mit der Heiligkeit des menschlichen Lebens. Wo die menschliche Freiheit weltimmanent verstanden wird und ihre Grenzen durch die Freiheit anderer Menschen gesetzt sind, gibt es kein Argument gegen die Selbsttoetung. Auch die abrahmitischen Religionen gehen von der Willensfreiheit des Menschen aus. Sie setzen voraus, dass der Mensch die Wahl hat, aber sie definieren die Wahl als eine zwischen gut und boese, Leben und Tod und dabei gelten auch nicht weltimmanente Kriterien, so dass die Selbsttoetung ein Vergehen gegen Gott darstellt, in dessen Hand Leben und Tod stehen.
Ich verfolge meine Gedanken vorlaeufig nicht weiter, sondern hoffe auf eine rege Diskussion, sobald die Feiertage vorbei sind.
Hier noch ein modernes Fundstueck: The Statement of Muslim Scholars on the Sanctity of Human Life and on the Prohibition of Declaring a Believer an Apostate in Light of the Current State of Affairs in Iraq vom 16. August 2007
1) The sanctity of human life: God has forbidden the killing of innocents whether
they be Muslim, Christian, or otherwise. All who take life without legitimate
justification commit a major crime and an atrocity before God.
Auch hier sehen wir, dass keineswegs jede Toetung verboten ist, sondern nur die Toetung von Unschuldigen. Jede gerechtfertigte Toetung ist offensichtlich zugelassen, wenn nicht sogar geboten. Mir faellt (natuerlich!) auch auf, dass nur Muslime und Christen ausdruecklich erwaehnt werden, waehrend Juden wohl unter „otherwise“ subsumiert sein sollen. Meine Assoziation aber ist die Hamas Charter, die folgenden religioesen Text zitiert:
The prophet, prayer and peace be upon him, said: The time will not come until Muslims will fight the Jews (and kill them); until the Jews hide behind rocks and trees, which will cry: O Muslim! there is a Jew hiding behind me, come on and kill him! This will not apply to the Gharqad, which is a Jewish tree (cited by Bukhari and Muslim).
Und die Aussagen von Scheich Muhammad Sayyed Tantawi, Grand Imam der aegyptischen Al-Azhar Universitaet, die gemeinhin als hoechste Institutio des sunnitischen Islams dargestellt wird:
Following calls by Israeli Rabbis for him to condemn suicide attacks on civilian targets, Tantawi in 1997 declared such operations legal, blaming Israel for fuelling the violence. He told the Arabic daily al-Hayat that the Palestinian suicide bombers acted in self defence against aggressors and their actions were justified under Islamic shari‘a (the implication being that this is true even when civilians were targeted) [10] .
In 1998, Tantawi again in an interview to al-Hayat, declared that Palestinian suicide attacks are legal under shari‘a, stating that: “It is every Muslim, Palestinian and Arab’s right to blow himself up in the heart of Israel” [11] .
In April 2001, Tantawi was quoted by Arabic newspapers Sut al-Ama (Egypt) and al-Hayat (London-Beirut) as stating that “suicide operations are of self-defense and a kind of martyrdom, as long as the intention behind them is to kill the enemy’s soldiers, and not women and children” [12] .
In 2002 he went further, declaring at a reception for the leader of the Arab Democratic Party of Israel, Abd al-Wahhab Darawsheh, that suicide operations and the killing of Israeli civilians, even women and children, were permitted and indeed should be intensified [13] . In April 2002, speaking to 15,000 demonstrators at al-Azhar mosque after Friday prayers, Tantawi declared the door open for a Muslim jihad in Palestine, stating that those who carry out suicide bombings were not terrorists but martyrs [14] .
In 2004, following the new phenomenon of Palestinian women perpetrating suicide bombings, Tantawi was quoted in the Arabic press as confirming that Palestinian suicide bombings were acts of martyrdom, whether carried out by males or females. He also ruled that female suicide bombers are allowed to take off their hijab or wear a wider covering veil to hide their bombs in order to ensure the success of their operations [15] .
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