Leben in Sderot


via Achse des Guten bin ich auf diesen Artikel im Daily Mail gestossen. Ich finde ihn so beeindruckend, dass ich ihn ins Deutsche uebersetzt habe.

Code Rot in Sderot: Leben im meistbombardierten Ort der Welt
Von PHILIP JACOBSON – zuletzt bearbeitet 17:58pm am 15. Februar 2008

Auf einem ausgedoerrten Streifen an der isr.-pal. Grenze liegt eine staubige Grenzstadt mit besonderem Anspruch auf Beruehmtheit: Pro Kopf ist das der meistbombardierte Ort der Welt. Philip Jacobson berichtet von seiner Zeit in Sderot.
Ein klarer Wintermorgen und nichts regt sich im unfruchtbaren Streifen Niemandsland, der die israelische Kleinstadt Sderot vom unruhigen Gazastreifen trennt, der nur zwei Kilometer entfernt ist.

Auf der palaestininesnischen Seite der Grenze glitzter das Sonnenlicht von der Windschutzscheibe eines Lastwagens, der neben einem heruntergekommenen Bauernhaus parkt, wo die Waesche zum Trocknehn herausgehaengt wurde. Zwitschernde Voegel kreisen ueber einem nahegelegenen Reservoir.

Ein Windstoss treibt kleine Sandwirbel auf dem Fahrweg, den die israelischen. Armeejeeps fuer die Grenzpatrouillen benutzen.

Ich bin schon frueher hier gewesen und weiss, was passieren wird.

Trotzdem besteht mein Fuehrer darauf, die lokalen Regeln noch einmal mit mir durchzugehen:
1. Ich darf mich nicht anschnallen. Das ist der einzige Ort in Israel, wo Sicherheitsgurte verboten sind. Anschnallen behindert Fahrer und Mitfahrer beim schnellen Verlassen des Fahrzeugs.
2. Ich darf das Autoradio nicht laufen lassen. Es koennte die Sirene uebertoenen.
3. Ich darf nicht duschen, wenn niemand anderes im Haus ist, der die Sirene hoeren kann. Letzten Monat hat eine Frau diese Regel ignoriert. Sie wusch gerade ihr Haar, als sie von den Fuessen gefegt wurde.
4. Bei Nebel extra vorsichtig sein. Er kann die Laserstrahlen des Warnsystems behindern.

Und ploetzlich kommt ein Geraeusch wie das Zuschlagen einer schweren Tuer, waehrend eine schlanke, knapp 2 Meter lange Kassamrakte den wolkenmlosen, blauen Himmel zerreisst. Ihre Flugbahn wird von weissen Rauch markiert, waehrend sie westwaerts der Stadt zuliegt. Fast gleichzeitig beginnt die Sirene. Eine dringliche Frauenstimme wiederholt die Worte: “Tseva Adom, Tseva Adom” ueber oeffentliche Lautsprecher. Das ist Hebraeisch fuer “Code Rot”. Es bedeutet, dass ein Geschoss unterwegs ist.

Die nervoesen Einwohner haben nicht mehr als 15 Sekunden, um Schutz zu suchen, bevor die Rakete einschlaegt. Bei dieser Gelegenheit muessen sie lange dort warten. In den naechsten 72 Stunden wird der Code Rot Alarm fast ununterbrochen zu hoeren sein, islamistische Terroristen inm Gazastreifen haben begonnen, mehr als 100 Raketen auf die Stadt abzufeuern in einem schrecklichen, 3-Tage langen Angriff. Die meisten verfehlen oder vergluehen. Aber ein paar treffen immer irgendein Ziel. Die Strassen sind leer, waehrend Familien sich unter dem Beschuss zusammenkauern.

Der Notdienst kommt kaum nach. Ein altgedienter Sanitaeter, Haim Ben Shimol, ist im Dienst, als er hoert, dass seine fuenfjaehrige Enkelin Lior verwundet wurde, waehrend sie und ihre Mutter Schutz suchten. Spaeter wird er mir erzaehlen, wier sie blutverschmiert gefunden hatte. “Ich musste ihr Gesicht waschen, um zu sehen, wo sie verletzt war. Dann habe ich sie verbunden und mit dem Krankwagen in die Klinik gefahren.” erinnert er sich. Die Aerzte entfernten Metallsplitter aus Liors Koerper und gibsten ihren gebrochenen Arm und ihr Bein.

Als die Attache endlich nachlaesst, kommen die Leute aus den Unterstaenden, manche in tiefem Schock und entdecken zerstoerte Haueser, Laeden und Bueros, frische Einschlagskrater in den Strassen und Klumpen von Schrapnell in den Betonunterstaenden, die auch als Bushaltestationen dienen. Wie durch ein Wunder ist niemand getoetet worden.
Waehrend sie fuer ihr Davonkommen dankbar sind, fragen sich viele Bewohner doch, wie lange sie dieses Leben unter Beschuss noch aushalten koennen. einge beschreiben ihr Dasein mit Galgenhumor als eines “in der groessten Zielscheibe in Israel”. Wegen der Naehe zur Grenze und der grossen Anzahl von Bombenbauern unter der Anleitung von Hamas auf der anderen Seite der Grenze hat Sderot einen einen einzigartigen Anspruch auf Ruhm: Pro Kopf der Bevoelkerung ist es der meistbombardierte Ort in Israel, ja sogar der ganzen Welt.

Vor mehr als sechst Jahren wurde die erste Rakete vom Gazastreifen losgeschossen. Seither sind ueber 2000 Kassamrakten – nach einem feurigen, muslimischen Prediger benannt – in und um die Stadt herum gelandet. Sie haben 13 Menschen getoetet, darunter vier Kinder und einige Dutzend verletzt. Seit Beginn dieses Jahres wurden 300 Raketen abgefeuert.

Letzten Samstag wurden zwei Brueder schwer verletzt, als seine Rakete in im Freien in der Stadtmitte ueberrascht hatte. Der achtjaehrige Osher Twito hat ein Bein verloren und der 19jaehrige Rami hat mehrere Schrapnellverletztungen erlitten.
Sicher, in derselben Zeitperiode der letzten sechs Jahre wurde noch viel mehr unschuldiges Blut vergossen, in Tel Aviv, Jerusalm und anderen Kommunen, wo palaestinensische Selbstmordbomber vollbesetzte Buse, Hotels und Cafes angriffen. Sogar waehrend des kurzen Krieges im Libanon im Sommer 2006 wurden etwa 40 israelische Zivilisten im Norden Israels getoetet.

Aber jenseits der grimmigen Rechnerei mit Menschenleben ist Sderot ein besondern Fall, weil sonst nirgends in Israel ganz normale Menschen tagein, tagaus mit dem Druck leben muessen, dass jederzeit eine Rakete treffen koennte.
“Hier lebt jeder am Rand des Nervenzusammenbruchs”, sagt Noam Bedein, ein junger israelischer Journalist, der vor ein paar Jahren nach Sderot gezogen ist. “Der Hoehepunkt fuer Kassamraken ist immer, wenn die Leute zur Arbeit gehen oder sie verlassen und zu Beginn und Ende der Schultags. Glaub mir, dass zermuerbt einen wirklich, seelisch und koerperlich.”

Die psychischen Auswirkungen betreffen Alte und Junge, Arme und Wohlhabene gleichermassten, aber den grausamsten Effekt haben sie auf die Kinder in Sderot. Eine neuere Untersuchung kam zum Ergebnis, dass fast ein Drittel aller Kinder zwischen 4 und 18 Jahren unter posttraumatischen Stoerungen leidet, waehrend viele mehr schwere Angstsymptome und Gefuehle von Hilflosigkeit haben, die ernstere Stoerungen ankuendigen. Die Tatsache, dass 10-Jaehrige taeglich Beruhigungsmittel nehmen, zeigt, dass ihnen eine normale Kindheit geraubt wird.


Nur in Sderot gibt es Schulen, die mit militaerischer Praezision vorgehen, waehrend Sicherheitsleute mit den Kinder von und zu Bussen rennen, wo die Autos von Eltern in Intervallen amkommen, um zu verhindern, dass eine Kassamrakete eine Menschenmenge treffen kann.

Ein solches Unglueck ist letztes Jahr an der Haroehschule, deren zweistoeckges Gebauede von einem enormen metallenen “Schirm” beschuetzt ist, nur knapp vermieden worden. Um 8 Uhr morgens, als die Kinder in der Schule eintrudelten, ging der Code Rot Alarm los. Eine Videocrew, die zufaellig da war, hat gefilmt, wie die erschrockenen Kinder um ihr Leben zum Schuleingang rannten. Sekunden spaeter fiel die Rakete in eine Baumgruppe neben der Schule und verpasste nur knapp den Kindergarten. “Wir hoerten eine grosse Explosion ganz in der Naehe und die Fensterscheiben zersprangen”, sagt die Musiklehrerin Asia Weissenberg. Weil sie wussten, dass Kassams oft in Salven abgefeuert werden, fuehrten sie und ihre Kollegen die zitternden Kinder moeglichst Schnell in den verstaerkten Schutzraum der Schule. “Natuerlich haben sie Angst”, sagt Weissenberg, “aber wenn sie sehen koennen, dass wir ruhig bleiben, hilft ihnen das, sich zu beruhigen.”
Vielen ist dieses praekaere Dasein zu viel geworden. Mindestens 3000 von Sderots 24000 Einwohnern haben die Stadt verlassen, die meisten fuer immer. Viele mehr wuerden gehen, wenn sie ihre Haeuser verkaufen koennten.

Das Gefuehl in Sderot zu leben und sich in der Stadt zu bewegen ist eigenartig. Auf dem offenen Markt fehlt der froehlich Laerm von anderen israelischen Staedten, keine aufgedrehten Radios oder droehnenden Verkaeufer. Ein Unterwaescheverkaeufer, der seine Waren mit einem Megaphon anpries, musste auf Druck der Kaeufer, damit aufhoeren.
“Fast jedes Mal, wenn ich hierherkomme, fallen Raketen in der unmittelbaren Naehe”, erzaehlt Esa cool, ein junger Beduine, der auf einer ausgebreiteten Decke Haushaltswaren anbietet. Die letzten Angriffe, die die Stromversorgung unterbrachen, haben den Verkauf von Taschenlampen und Kerzen rasant angehoben. “Niemand moechte im Dunkeln nach Schutz suchen muessen”, sagt er.

Waehrend wir einen Platz ueberqueren, wo die Leute das fuer die Jahreszeit untypische warme Wetter an Kaffetischen und auf Parkbaenken geniessen, weist Noam Bedein darauf hin, dass niemand sich mehr als ein paar Meter vom naechsten Unterstand entfernt hat. “Der Alptraum von jedem ist es, vom Alarm im Freien ueberrascht zu werden”, beobachtet er. “Unwillkuerlich rechnet jeder aus, wie lang er braucht bis zu einem sicheren Punkt.” “Wenn es zu weit ist”, raet er, “dann nimm das naechste Treppenhaus oder kauere neben eine solide wirkende Mauer, Kopf runter und die Haende hinter dem Nacken.” Da Kassams manchmal in Salven auftreten, ist es riskant sich sofort nach dem ersten Einschlag aufzurichten.
Bedein erklaert, dass das Code Rot System, das ausgeloest wird, wenn ein Netzwerk von Laserstralen eine ploetzliche Hitze entdeckt, wie sie von einem Raketenstart geneiert wird, keineswegs unfehlbar ist. Bei besonderen Wetterlagen, besonders bei Bodennebeln koennen Angriffe unentdeckt bleiben. Im letzen Mai starb die 32-jaehrige Shirel Feldmann an ihren Wunden, nachdem eine Kassemrakete ohne jede Warnung ihr Auto mit Schrapnelldruchloechert hatte.

Auf dem Hoehepunkt der letzten 3-Tage-Attacke wurde das Haus von Shlomi Argon getroffen, waehrend gleichzeitig der Alarm los ging. Seine Frau und ein fuenfjaehriger Junge, der mit ihrem Sohn spielte, wurde beide von Schrapnell getroffen. “Keiner war schwer verletzt, wie sich herausstellte, aber es ist wie Russisches Roulette hier”, erinnert sich der erschuetterte Argon. “Wer weiss, ob wir das naechste Mal wieder Glueck haben?”

Der volle Aschenbecher im Zimmer von Adriana Katz verraet, dass es wieder ein schwerer Tag im Hosen Zentrum war, wo sie dafuer zustaendig ist, Schockverletzte zu behandeln. Jeder Kassamangriff bringt eine Gruppe neuer Patienten in ihr vollgestopftes Buero, viele in Traenen, unkontrolliert zitternd und kaum in der Lage zu sprechen. Eine Frau in den mittleren Jahren sitzt im Wartezimmer, den Kopf in den Haenden mit zitternden Beinen. Als ich sie letztes Jahr traf, vertraute mir Dr. Katz, eine beeindruckende Person mit einer grauen Maehne und Ringen an jedem Finger, bedrueckt an, dass die seelische Gesundheitssituation in Sderot sich rapide verschlechtere. Heute sagt sie mir: “Die Lage ist katastrophal und wird schlimmer.” Die Symtome der Bedraengnis veraendern sich nicht, aber sie werden bei jedem Einschlag intensiver. “Die Handys beginnen nach jedem Angriff zu laeuten und in dieser Kleinstadt verbreiten sich schlechte Nachrichten schnell.” Die groesste Herausforderung fuer Dr. Katz ist zu verhindern, dass die Schockverletzten eine ausgewachsene posttraumatische Stoerung entwickeln. “Laut Lehrbuch ist die Behandlung entweder Gruppentherapie oder eine Einzeltherapie, die die Patienten auf die Rueckkehr in die Normalitaet vorbereiten”, sagt sie. “Aber alles, was wir hier tun koennen ist, die Leute in ihre Haeuser und Bueros zurueckzuschicken, wo sie die naechste Kassam erwarten, die nur neue Ringe von Verzweiflung schafft.” Wenig ueberraschend deutet Dr. Katz an, dass viele Leute in Sderot hohe Dosen von Beruhigungsmitteln nehmen und “natuerlich wie die Schlote rauchen”. (Israels Verbot, im oeffentlichen Bereich zu rauchen, wird in Sderot verstaendlicherweise missachtet.)

Viele der Muetter, die darauf warten, ihre Knder von der Schule abzuholen, erzaehlen auffallend aehnliche Geschichten von wiederkehrenden Alptraeumen, Bettnaessen und ein alles durchdringendes Gefuehl von Unsicherheit, ausgeloest durch die Angriffe.

Hava Gads neunjaehriger Sohn Yanai war ein aufgewecktes und extrovertiertes Kind bis zu seinem 2. Geburtstag, aber heute ist er von Angst gelaehmt, wenn der Code Rot Alarm ertoen und besteht darauf, im Bett seiner Eltern zu schlafen. “Stellen Sie sich, was das fuer die eheliche Beziehung bedeutet. Er verlaesst das Haus nicht, wenn nicht einer von uns dabei ist, auch nicht um mit den Nachbarskindern zu spielen, weil er denkt, eine Rakete koennte ihn treffen.” Unlaengst explodierte eine Kassamrakete nicht weit von Gads Haus. “Mein Sohn begann nach Luft zu schnappen, dann hat er sich in die Hose gemacht.” erinnert sie sich. “Das passiert ihm nun beinahe jedes Mal.” Yanais Angst wurde verstaerkt, als eine andere Rakete die Fabrik traf, in der sein Vater Tsfania arbeitet. “Er hat Angst zu weit von dem verstaerkten Raum in unserem Haus entfernt zu sein, oder dass etwas Schreckliches in der Schule passiert.” Die 42jaehrige Gad wird natuerlich auch von der staendigen Anspannung und Unsicherheit beeinflusst, sie nimmt regelmaessig Valium und besucht die Klinik von Dr. Katz zur Therapie.

Dina Hoori, 44, seit 10 Jahren Klassenlehrerin an der lokalen Grundschule weiss nur zu gut, wie die Gefahr auf die Familien in Sderot einwirkt. “Besonders tragisch finde ich, dass die Eltern oft fuehlen, sie wuerden ihre Kinder im Stich lassen, weil sie nichts tun koennen, um die Raketen zu stoppen.” sagt sie. Obwohl sie in einer Gegend liegt, wo schon oft Raketen eingeschlagen haben, ist die Schule nur teilweise gegen Kassamraketen geschuetzt und der Schulhof kann normalerweise nicht benutzt werden. “Die Regierung stellt keine Mittel zur Verfuegung, um dide ganze Struktur zu verstaerkten”, sagt Hoori mit einer Grimasse. Bei einer Gelegenheit fiel eine Kassam ganz in der Naehe, als die Schule am Morgen gerade anfing und eine der juengsten Schuelerinnen wurde verletzt.

Die Kinder werden waehrend der Raketenangriffe aus der Schule evakuiert. “Zum Glueck ist sie wieder zurueck bei us, aber man fuehlt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis eine Rakete einschlaegt, wenn die Kinder gerade im Freien sind.”
Eine andere Klassenlehrerin, Liora Fima, findet es herzzerreissend wie die Kinder sich langsam an den Terror gewoehnen und anscheinend resignieren, ein Leben unter Raketen zu fuehren. “Ein fuenf-jaehriges Maedchen, das eine Panikattacke erlitt, sagte zu ihrer Mutter ‘Mama, ich glaube, ich will sterben.’ Die arme Frau weinte sich im Klassenzimmer die Augen aus.”

Ich fragte Fima, ob sie je mit ihren Schuelern ueber das Leiden der Schulkinder im Gazastreifen gesprochen habe, deren Leben durch die blutigen Konflikte zwischen rivalisierenden palaestinensischen Fraktionen und die furchterregenden Aktionen von IDF Truppen staendig beeintraechtigt wird. Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: “Ich weiss, dass es auch im Gazastreifen gute Leute gibt, die vom Frieden traeumen genau wie wir, aber ihre Fuehrer sind Fanatiker, die gern auch das Leben der eigenen Kinder opfern. Die Schulbuecher dort sind voller Hass auf die Juden.”

Im Hof der Polizeistation von Sderot lagern Dutzende von Raketengehaeusen in Regalen, jedes nummeriert und datiert. Ein junge Polizistin aethipischer Abstammung zeigt uns die angesengten und verbogenen Ueberreste einer Kassam von gestern. Sara Vavshet zeigt auf den arabischen Slogan, der auf das Gehaeuse geschrieben wurde und erklaert: “Jede Terrororganisation verwendet ihre eigenen Farben und Embleme und manchmal schreiben sie Drohungen auf Hebraeisch.” (Die Hamas, die nun den Gazastreifen regiert, bevorzugt das Rot-Gruen-Weiss der pal. Fahne.) Vavshets Familie kannte die Familien der beiden Kinder, 2 und 4 Jahre alt, die 2004 innerhalb von wenigen Tagen von Kassamraketen getoetet wurden.
Die meisten Kassams werden in kleinen Werkstaetten im Gazastreifen zusammengebaut, aus Metallroehren von Abwassersystemen oder Laternenpfosten (inklusive eienr Lieferung, die von der EU gespendet wurde, so geht das Geruecht). Grobe Metallflossen werden daran geloetet um den Flug zu stabilisieren. Sie werden von einer brennbaren Mischung aus Oel, Rohalkohol, Zucker und Duengemittel angetrieben. Fruehe Modelle hatten eine Reichweite von 8 km und eine Sprengladung von nur einem Pfund, mit der Naegel, Muttern und andere Metallteile verschossen wurden. Sie wurden von metallenen Abschussgestellen aus abgeschossen und waren sehr inakkurat, aber ihren Zweck, die Einwohner von Sderot staendig in Angst zu halten, erreichten sie.

Laut Journalist Noam Bedein wurde die Reichweite und die Zerstoerungskraft der Kassem in den letzten Jahren staendig erhoeht. “Wir wissen, dass die Terroristen staendig mit neuen Treibstoffmischunen und Schrapnelladungen experimentieren. Das hat schon zur Entwicklung von Geschossen gefuehrt, die mehr 10 kg Sprengstoff tragen koennen und eine Reichweite von 24 km haben.” Mehrere solcher Raketen haben bereits die Industriestadt Ashkelon getroffen, wo es einen der groessten Oelterminals in Israel gibt. “Die Kassams werden auch immer treffsicherer.”sagt Bedein. “Die Terroristen lernen ueber’s israelische Radio, wo eine bestimmte Rakete eingschlagen ist, dann justieren sie den Abschuss das naechste Mal.”

Trotz der intensiven elektronischen Ueberwachung der Grenzzone und regelmaessiger Aktionen, gelingt es dem israelischen Militaet nicht, die Hit-and-Run Angriffe zu verhindern. Von einem Beobachtungspunkt am Stadtrand von Sderot hat Bedein einmal beobachtet, wie ein Kassamteam den Abschuss auf dem Dach eines palaestinensischen Mehrfamilienhauses vorbereitete. “Diese Typen waren wirklich geschickt.” erinnert er sich. “Als ich die Explosion hoerte, waren sie bereits auf der Flucht.”

Nachdem ich mich in einer Polizeistation fuer den naechsten Alarm Schutz suchte, besuchte ich eine Familie in der Naehe, deren Haus am vorigen Tag getroffen worden war. “Zum Glueck waren wir bei einem Freund eingeladen, als es passierte”, erzaehlte Shlomo Ben-Zaken, 46, aber die Wirkung auf meinen Sohn Eliran war furchtbar. Der schlaksige, ausdrucklose 22 jaehrige Eliran scheint sich in seiner eigenen Welt aufzuhalten, er folgt uns schweigend von Zimmer zu Zimmer, waehrend wir den Schaden inspizieren. “Er hatte schon psychishe Probleme vor den Kassams aber in den letzten 18 Monaten ist er in eine schwere Depression gefallen. Er verbringt seine ganze Zeit am Computer und hat zu viel Angst, um das Haus zu verlassen.” Von seinem Vater ermuntert, zeigt mir Eliran sein geliebtes Trikot von Manchester United und fluestert etwas auf Hebraeisch. “Er moechte wissen, ob Sie ihm helfen koennen, ein Spiel in Old Trafford zu sehen.”
Fuenfzehn Jahre lang arbeitete Ben-Zaken Seite an Seite mit Palaestinensern im Gewerbegebiet von Gaza und befreundete sich mit mehreren. Einer rettete sein Leben, als er in ein diabetisches Koma fiel. Die Terroranschlaebe beendeten die grenzuebergreifende wirtschaftliche Zusammenarbeit, aber Ben-Zaken bleibt ueber sein Handy in Kontakt. “Das sind ganz normale, arbeitende Leute, genau wie ich und sie leiden unter den israelischen Reaktionen.”

Mit wenigen Ausnahmen glauben die Bewohner von Sderot, dass ihre Lage die isr. Regierung voellig kalt laesst. “Wenn Kassams anfingen auf Tel Aviv oder Jerusalem niederzugehen, dann waere das ein nationaler Notstand.” sagt ein Ladenbesitzer, dessen Geschaeft sichtlich auf den Bankrottt zusteuert. “Die Politiker schauen fuer einen kurzen Besuch vorbei, ermahnen uns, tapfer und standhaft zu bleiben und verschwinden wieder.” “Sie wollen gar nicht wissen, wad mit den 800 Haeusern ist, die immer noch keine ordentlich verstaerkten Sicherheitsraeume haben oder welche Probleme die Leute haben, um Entschaedigungen fuer Raketenschaeden zu bekommen.” Als der israelische Premierminister Ehud Olmert in seiner Panzerlimousine letzten Monat zusammen mit TV-Kameras in die Stadt kam, empfingen ihn Transparente “Olmerts Regierung: Keine Sicherheit. Kein Schutz. Du hast versagt. Geh’ nach Hause”

Und trotzdem gibt es etwas in Sderot was den Geist des London Blitz erinnert, ob es nun die aelteren russischen Einwanderer sind, die in den Cafes Tee trinken und darauf bestehen, dass sie hierbleiben wierden oder der Eigentuemer von Shufans Damenfriseursalon, dessen letzte Kreation an an eine Kassamrakete erinnert. An einem Nachmittag, als ich in Sdeort war, hielt ein alter LKW im Stadtzentrum und etliche orthodoxe Juden mit ihren schwarzen Kafteaen und breitrandigen Hueten stiegen aus. Ein Verstaerkersystem war schnell aufgebaut und israelische Volksmusik droehnte, waehrend sie auf mit schwingenden Schlaefenlocken auf dem Pflaster tanzten. Waehrend einer Verschnaufpause sagte mir ihr Anfuehrer, es sei ihre Mission, den Einwohnern von Sderot ein wenig Erleichterung zu verschaffen. “Haben Sie keine Angst, dass die Musik so laut ist, dass Sie den Alarm ueberhoeren koennten?”fragte ich. Er laechelte breit und sagte dann: “Das ueberlassen wir dem Allmaechtigen.”

Und dann gibt es den Buergermeister, Eli Moya, ein schnell redender Anwalt, der in der Stadt geboren und aufgewachsen ist und gern erzaehlt, wie er vor 10 Jahren das Amt uebernahm. “Ich dachte, ich wuerdemich um Dinge wie Schulen, Freizeitangebote und Muellabfuhr kuemmern.” Ein begabter PR Mann hat Moyal im letzten Dezember oeffentlich seinen Ruecktritt angekuendigt aus Protest gegen die Inaktion der Regierung, dann liess er sich ueberreden, doch im Amt zu bleiben. Er hat “Solidaritaet mit Sderot” Demonstrationen in ganz Israel organisiert und einmal einen Marsch der Einwohner mit Kassemmoedellen aus Karton zur Grenze des Gazastreifens gefuehrt. Als ein TV-Reporter ihm sagte, die Hamasfuehrung drohe damit, die Juden aus Sderot zu vertreiben, griff er zum Mikrophon und verkuendete: “Ich bin Eli Moyal, ich schaue den Terroristen ins Auge und sage ihnen, wir haben ihren Raketen die letzten 7 Jahre standgehalten. Das werden wir auch die naechsten 700 Jahre tun.”

crossposted bei Freunde der offenen Gesellschaft

7 Antworten

  1. […] für Israel interessiert. Das Blog “Blick auf die Welt – von Beer Sheva aus” hat einen Artikel übersetzt der über das Leben in dieser Stadt handelt. Und ich denke das ich viele Probleme […]

  2. http://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-3511004,00.html

    schon wieder ein kind schwer verletzt. wird es nicht zeit fuer eine entschlossene gegenreaktion ? wie lange ist solcher terror zu ertragen ?

  3. Dirk,

    das Problem ist nicht, in den Gazastreifen einzumarschieren, sondern wieder rauszukommen. Die Idee, Nato- oder UN-Truppen dazu einzuladen, ist grandios kurzsichtig und dumm – wurde aber von Livni mindestens lanciert.

    Aegypten kann nicht dazu gezwungen werden, Verantwortung zu uebernehmen und ist selber nicht stabil genug, als dass ich das tun wuerde.

    Ich denke, am besten waere es, das Problem an der Wurzel zu packen und eine zentrale Wurzel ist nicht der Bloedsinn von Armut und Verzweiflung, wie Oz immer noch toent, sondern der Iran.

  4. ruth,

    ich dachte auch weniger daran nach gaza einzumaschieren. es waere zwar einfach das vom gruenen tisch aus zu fordern. aber es sind nicht meine kinder die in diesen irrsinn geschickt werden wuerden. ich will nicht diesen irrsinn fuer die kinder anderer menschen fordern.

    aber es gibt auch eine luftwaffe. die erste verpflichtung eines staates ist es seine buerger vor gewalt zu schuetzen. wenn es nicht anders geht dann eben auch mit solchen mitteln wie luftangriffen. ich denke israel hat sehr lange geduld bewiesen. vielleicht zu lange ?

    natuerlich ist es dumm andere truppen einzuladen. beim gedanken das es ausgerechnet un truppen sein sollen dreht sich mir der magen um. ausgerechnet die un, natuerlich voellig „unparteisch“. ist ja auch kein wunder bei den machtverhaeltnissen dort.

    was den iran angeht gebe ich dir voellig recht. aber der iran wird (in deutschland/europa) nicht wirklich als gefahr wahrgenommen. als gefahr fuer den „weltfrieden“ wird israel angesehen. der iran wird doch eher als opfer eines israelisch/amerikanischen komplotts angesehen oder (im „besseren“ fall) wird es so dargestellt das man mit dem iran eben verhandeln muesse, dann wird sich schon alles richten. die gefahr wird verharmlost, appeasement politik eben. besonders traurig weil es schon einmal so einen fall von verharmlosung gab. der typ hiess hitler. das ergebnis der verharmlosung kennen wir. und trotzdem wurde nichts daraus gelernt.

    „armut und verzweiflung“ – natuerlich bloedsinn. aber ein beliebtes „argument“. wo sind die entwicklungshilfegelder fuer die autonomieregierung geblieben ? in korruption und kassam raketen wurden sie investiert. damit der terror gegen suedisrael weitergehen kann. wenn die palaestinenser tatsaechlich unter armut und verzweiflung leiden sollten sie sich bei ihrer eigenen fuehrung beschweren und rechenschaft ueber die verwendung der entwicklungshilfegelder fordern. das wird natuerlich niemals passieren. der feind heisst ja israel und israel ist an allem schuld.

    frueher waren die juden an allem schuld. wie einfach es ist antisemitismus salonfaehig zu machen. man muss nur „juden“ durch „israel“ ersetzen. und schon ist man in europa auf der sicheren seite.

  5. […] –          Blick auf die Welt – von Beer Sheva aus […]

  6. […] Leben in Sderot (tags: israel) […]

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