Als ich vor fuenfzehn Jahren nach Beer Sheva kam, half ich gleich im ersten Herbst bei der Produktion und Auffuehrung der damaligen LOGON Veranstaltung „Patience“. Die Frau, die mich im Namen der British Olim Society willkommen hiess, warf nur einen Blick auf meinen Lebenslauf und lud mich zu den Proben ein. Sie selber spielte und sang die Titelrolle.
Zur Generalprobe kam eine sehr kleine, rundliche Frau mit kurzen Strubbelhaaren und fotographierte. Die Bilder wurden sehr gut und ich bestellte fuer mich ein paar Abzuege, obwohl ich auf keiner drauf war. Wie sich herausstelte, war die Fotographin aus Bern. Die gemeinsame Muttersprache verbindet. Ihre fordernde, etwas aggressive Art stiess mich zwar immer wieder vor den Kopf, so dass ich mich ein wenig zurueckzog. Aber Beer Sheva ist zu klein, um jemandem wirklich aus dem Weg zu gehen. Die Schwester der Tagesmutter meiner Toechter war eine gute Freundin der Schweizerin. Die Praesidentin der Gemeinde ebenfalls und ihr Mann, der als Kinderarzt im Krankenhaus meine zwei auf ihre Neugeborenengelbsucht untersuchte. Sie machte mir auch nie Vorwuerfe, wenn ich mich zurueckzog, sondern erneuerte einfach nach einer gewissen Zeit den Kontakt. Anscheinend empfand sie, was mich stoerte und dann ging es wieder ganz gut.
Vor Jahr und Tag verlor sie ihre Stelle als Floetenstimmerin bei der Blockfloetenfabrik in Shaar HaNegev. Die Fabrik produziert wohl auch nicht mehr. Auch in der Musikschule von Sderot wollten immer weniger Kinder Blockfloete lernen. Die Gemeindepraesidentin sorgte dafuer, dass die Schweizerin zur Tagesmutter fuer ihr erstes Enkelkind bestellt wurde, obwohl die Schwiegertochter davon gar nicht begeistert war. Etwas spaeter fand ich, dass die Grosse jetzt Blockfloete lernen sollte. (Und sie hat es gut gelernt und floetet immer noch fleissig und freudig.) Auf diese Weise konnte sich die Schweizerin ueber Wasser halten, bis sie Rente beziehen konnte.
Vor drei Jahren verstarb ihre Mutter. Fast gleichzeitig, so empfand ich, begann sie ganz ploetzlich zu altern. Dann hatte sie einen Schlaganfall und war halbseitig gelaehmt. Die gleichen Leute, die ihr vorher geholfen hatten, etwas Geld zu verdienen, besuchten sie nun im Krankenhaus, kochten fuer sie usw. Mit eisernem Willen und viel Einsatz schaffte sie es, fast alle Funktionen wieder zu erobern, nur Floete und Klavier wird sie nie wieder spielen koennen. Es war ein trauriger Tag, als sie ihre Instrumente verkaufte.
Die Schweizerin hatte ein Ziel, auf das sie hinarbeitete. Sie wollte zu ihrer besten Freundin nach Australien fahren. Und sie war termingerecht fit und machte die Reise in unserem Fruehling und erlebte den australischen Herbst zwei Monate lang. Nach ihrer Rueckkehr war sie etwas niedergeschlagen. Kein Wunder, dachte ich, das war ja der Antiklimax. Sie begann abzunehmen. Da sie ziemlich rundlich gewesen war, erhielt sie zunaechst vor allem Komplimente. Sie selber dagegen machte sich Sorgen, weil sie doch gar nicht abnehmen wollte. Ihr Hausarzt wies sie schliesslich ins Krankenhaus ein, wo sie mit Kraftnahrung gefuettert wurde, Bluttransfusionen bekam und gleichzeitig einer Batterie von Untersuchungen unterzogen wurden.
Sie selber ahnte schon lange, dass es Krebs sei. Ich realisierte das erst, als ich sie in ihrer angstvollen Erwartung erlebte. Seither ging es rapide abwaerts mit ihr. Sie ist so schwach, dass sie kaum aus eigener Kraft aufstehen kann. Sie ist bei sich zuhause und verbringt den Tag auf dem Schreibstischstuhl hinter ihrem Schreibtisch. Verschiedene Leute kommen (die ueblichen Verdaechtigen), um ihr Essen zu machen, sie ins Bett zu bringen, zu duschen usw. Letzte Woche hatte ich noch einigermassen Schonzeit. Aber jetzt muss ich ran, die anderen sind schon erschoepft und wollen wieder ein bisschen Privatleben. Die Gemeindepraesidentin bekommt noch ein Enkelchen, das erste Kind ihrer juengsten Tochter (die auch bei LOGON mitwirkte). Die andere hat eine neue Stelle angetreten.
Obwohl ich nun offiziell arbeitslos bin, bin ich doch staendig im Stress, und jongliere Kinder, Haushalt, Arbeitssuche, Feiertage und Altenbetreuung. Anscheinend mache ich den Job gut, so dass immer mehr Aufgaben auf mich warten. Heute z.B. waren zwischen meinem Morgenbesuch und meinem Abendbesuch drei verschiedene Freunde bei ihr. Keiner von ihnen dachte daran, ihr etwas zu essen anzubieten und zu richten. Und sie selber sagte auch kein Wort. Erst als die Dritte gegangen war, sagte sie zu mir, sie habe seit dem Fruehstueck nichts mehr zu essen gehabt. Danach wollte sie duschen. Natuerlich bedeutet das, dass ich Kueche und Bad saubermachen muss. Die ganze Wohnung ist in einem furchtbaren Zustand. Warum niemand die Haushaltshilfe angefordert hat, die ihr zusteht, verstehe ich nicht. Jetzt lohnt es sich nicht mehr.
Ich bin froh, dass das Ende absehbar ist, wenn ihre Geschwister uebernehmen. Wenn mir dieser Einsatz zu einem anderen Zeitpunkt abgefordert worden waere, haette ich vielleicht nicht so willig uebernommen. Aber in den Furchtbaren Tagen zwischen Neujahr und Versoehnungstag?!
Aus dem U’netane tokef Gebet:
On Rosh Hashanah will be inscribed and on Yom Kippur will be sealed how many will pass from the earth and how many will be created; who will live and who will die; who will die at his predestined time and who before his time; who by water and who by fire, who by sword, who by beast, who by famine, who by thirst, who by storm, who by plague, who by strangulation, and who by stoning. Who will rest and who will wander, who will live in harmony and who will be harried, who will enjoy tranquility and who will suffer, who will be impoverished and who will be enriched, who will be degraded and who will be exalted. But REPENTANCE, PRAYER and CHARITY remove the evil of the Decree!“
Hier eine bejahrte, aber immer noch sehenswerte Version von Leonard Cohens „Who by fire“
Bei seinem Konzert in Israel hat er das auch gesungen, und damit beeindruckt. , siehe auch Yaacov Lozowick.
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